Unheilvolle Perspektive

Die Gewaltspirale beenden
Erste und Dritte Welt sind näher zusammengerückt 12.9.2001, Michael Albert, Z-Net

Eine einfache Aufzählung der Ereignisse des Tages wäre überflüssig. Die bekannten Fakten kann man in jedem Fernsehsender sehen. Die Schlußfolgerungen sind ziemlich offensichtlich. Nach Routinestarts waren am Dienstag vier Passagiermaschinen gleichzeitig von Terrorteams gekapert und auf dramatisch andere Flugbahnen gebracht worden, um auf diese Weise vorher ausgesuchte Ziele zu zerstören. Der Umfang der Zerstörung ist noch nicht genau bekannt, aber er ist zweifellos entsetzlich. Was anders kann man daraus schließen, als daß verheerende, selbstmörderische Terrorangriffe jederzeit machbar sind? Wolkenkratzer in den USA oder in anderen entwickelten Ländern zu vernichten, ist zwar schwieriger, als mit US-Bombern in ausgesuchten Staaten Städte zu bombardieren, aber es ist bei weitem nicht unmöglich.

Gutherzige Amerikaner werden die unschuldigen und schrecklichen Todesfälle mit Würde beweinen. Medienanalytiker und Politiker werden dagegen schon bald die Bilder von den Schutthaufen benutzen, um mehr Geld für die Polizei und das Militär zu bekommen, damit die staatlichen Interventions- und Überwachungsfähigkeiten verbessert werden können. Sie werden das Lied anstimmen, daß das Töten von Zivilisten feige ist und einer schnellen und gnadenlosen Bestrafung bedarf. Dabei werden sie natürlich geflissentlich übersehen, daß sie selbst den Angriff auf Jugoslawien unterstützt haben, der die zivile Bevölkerung dieses Landes terrorisiert hat, nur um eine verachtete Regierung zu stürzen. Sie werden auch die Tatsache ignorieren, daß das von den USA geführte Embargo gegen Irak Hunderttausende von zivilen Toten verursacht hat, wiederum nur, um eine verhaßte Regierung zu destabilisieren.

Der Terroranschlag am Dienstag war abscheulich und widerwärtig. Aber überall in der Dritten Welt gibt es Menschen, deren Schicksal schon lange in den Händen ferner Herrscher liegt. Diplomaten und Unternehmer aus der Ersten Welt verfolgen dort jahrein, jahraus ihre Macht- und Profitgelüste und verursachen auf diese Weise in der Dritten Welt ein schier unermeßliches Elend. Aufgrund unserer großen Distanz zu den Opfern und der endlosen Vernebelungstaktik der Massenmedien über die Situation der Menschen dort, können wir als Bürger der Ersten Welt es nicht begreifen, daß es sich um nichts anderes als Mord handelt, wenn Millionen Menschen verhungern, nur weil die Geschicke eines armen Landes ausschließlich zur Vermehrung des Profits des multinationalen Kapitals gesteuert werden. Aber das ist und bleibt Mord.

Für viel zu lange Zeit mußten nun die Völker der Dritten Welt in fast totaler Abhängigkeit von den Entscheidungen weit entfernt lebender, herrischer Gebieter leben, denen ihre Zukunft egal ist. Bis zu einem gewissen Grad sind nun die gleichen abgrundtiefen Bedingungen bei den Menschen in den entwickelten Ländern angekommen. Jene, die bei den Angriffen in den USA starben, wurden ebenfalls Opfer von Entscheidungen, die weit weg von ihnen von Akteuren getroffen worden waren, denen es egal war, welches Massaker sie anrichteten. Von nun an werden die Menschen der Ersten Welt zwar nicht die menschenunwürdigen Bedingungen und die tägliche Armut der Dritten Welt teilen, aber dafür etwas von der Furcht, von anderen als Geisel gehalten zu werden. Bei dem Versuch, diese Situation zu überwinden, aber hauptsächlich, um ihre bereits grotesk aufgeblähte Macht noch weiter zu vergrößern, werden die Führer der Ersten Welt in den kommenden Wochen die Errungenschaften von Jahrzehnen auf den Gebieten der Bürgerrechte und der Zivilgesellschaft in Frage stellen. Sie werden versuchen, die Uhr der Freiheit zurückzustellen.

Kann irgend etwas das Massaker des Kapitals, das Massaker des Terrorismus und das Massaker der repressiven Reaktion eindämmen? Unsere beste Hoffnung beruht darin, institutionelle Veränderungen zu erreichen, die Profitsuche und politische Unterordnung reduzieren, während zugleich der Wunsch nach sinnlosem und menschenverachtendem Terrorismus verringert wird.

In den kommenden Wochen werden wir in Amerika womöglich eine Art von Zeremonie erleben, die Sicherheit und Macht feiert. Eine Zeremonie, die geheime Informationsbeschaffung feiert, die Beschaffung neuer Waffen feiert und vielleicht sogar Mordanschläge. All das wird als rechtschaffenes Ziel dargestellt werden, so als ob die Opfer des Terrors mit dem Versuch, noch mehr unschuldige Menschen rund um die Welt umzubringen, geehrt statt besudelt werden würden.

Normale, gutherzige Amerikaner werden über den Schmerz, den die heutigen Ereignisse verursacht haben, weinen. Sie hoffen auf eine Welt, in der solch ein Haß und solch eine Kaltherzigkeit verschwindet. Aber ich fürchte, daß die Führer Amerikas zynisch Munitionsgürtel höher schnallen, während sie versuchen, überall ihre Wanzen zum Mithören anzubringen und darüber nachdenken, wie man die Bürgerrechte am schnellsten in der Müllverbrennungsanlage entsorgt.

In diesem Klima müssen alle Menschen guten Willens so oft wie möglich erklären, daß Terrorismus abscheulich und geisteskrank ist, aber zugleich ist das auch der Kapitalismus. Wir dürfen keine Angst haben, eine andere Meinung zu haben, sondern statt dessen müssen wir noch härter daran arbeiten, uns allen Formen von Ungerechtigkeit zu widersetzen und sie mit großen, öffentlichen Demonstrationen und zivilem Ungehorsam zu bekämpfen.

Übersetzung: Rainer Rupp Die Gewaltspirale beenden